„Wieder mal typisch. Ich werde übergangen. Ich bin halt nicht die Lautstarke. Ich werde sowieso nie ernst genommen.“
Und zack – gute Laune weg. Selbstzweifel an. Körperspannung auf Anschlag. Aber Moment – was ist da gerade wirklich passiert? Und vor allem: Was hast du da eigentlich wirklich gefühlt – bevor dein Kopf eine Netflix-Serie daraus gemacht hat?
Überlagerte Gefühle:
Was wirklich hinter deiner Emotion steckt
Viele Menschen erleben in solchen Momenten eine Form innerer Eskalation, die nicht vom äußeren Ereignis kommt, sondern von der emotionalen Struktur, die sich darüberlegt.
Was ursprünglich ein kurzes, echtes Gefühl war – Enttäuschung, Unsicherheit, Traurigkeit – wird binnen Sekunden überlagert von etwas anderem:
- von Wut, weil Traurigkeit nicht erlaubt scheint
- von Rückzug, weil man sich nicht mehr zeigen will
- von Selbstabwertung, weil man gelernt hat, Kritik zu internalisieren
Diese emotionale Überlagerung funktioniert wie ein Filter: Sie verzerrt, verstärkt oder ersetzt das eigentliche Erleben – nicht willentlich, sondern reflexhaft. Was du dann fühlst, ist nicht mehr das echte Gefühl – sondern die Abwehr dagegen.
Der Preis falscher Gefühle
Das Schlimme an überlagerten Gefühlen ist nicht nur, dass sie unangenehm sind. Sondern dass sie dich auf eine falsche Spur setzen. Sie beeinflussen, wie du dich selbst wahrnimmst – und wie du dich zeigst.
Irgendwann glaubst du das, was aus der Überlagerung geworden ist: Ein generalisierendes „Ich bin eben so.“, ein deprimiertes „Ich werde nie gehört.“, ein entwertendes „Ich bin zu sensibel.“
Aber das stimmt nicht. Denn: Das war nur die emotionale Schleife, die du zu selten unterbrochen hast.
Was passiert, wenn du deine echten Gefühle nicht erkennst?
Wenn du z. B. Wut fühlst, die eigentlich Traurigkeit über mangelnde Anerkennung verdeckt, dann versuchst du, ein Bedürfnis durch eine Reaktion zu lösen, die nicht dazu passt:
- Du wirst laut, statt dich verletzlich zu zeigen.
- Du gehst auf Distanz, obwohl du Nähe brauchst.
- Du forderst, wo du dich eigentlich zeigen müsstest.
Das Ergebnis: Dein Gegenüber versteht dich nicht – oder wehrt sich. Die Situation eskaliert oder bleibt leer. Und dein eigentliches Bedürfnis wird nicht erfüllt.
Die überlagerte Emotion verzerrt deine Wahrnehmung und lenkt dich weg von dem, was du eigentlich brauchst:
Was du brauchst: Verbindung
Was du aber fühlst: Scham
Was du daraus machst: Rückzug
Was du brauchst: Wertschätzung
Was du aber fühlst: Wut
Was du daraus machst: Angriff
Was du brauchst: Entlastung
Was du aber fühlst: Schuld
Was du daraus machst: Selbstabwertung
Das eigentliche Bedürfnis wird nie erreicht. Dadurch fällst du immer wieder in diesen Kreislauf der Emotion.
Wenn du dauerhaft aus überlagerten Gefühlen heraus agierst, formt sich daraus:
- ein festes Verhaltensmuster
- ein verzerrter Blick auf dich selbst
- eine sich selbst erfüllende Dynamik
Beispiel:
Du fühlst dich wiederholt übergangen → wirst wütend → ziehst dich zurück → sagst nichts mehr → wirst wirklich nicht mehr gehört → fühlst dich erneut übergangen.
Und irgendwann glaubst du: „Ich bin halt der Typ, den man nicht wahrnimmt.“ So wird ein Moment zu einem Muster – und schließlich zu einem Selbstbild.
Wenn du Gefühle nicht mehr als Information versteht, sondern nur als etwas, das „weg muss“, verlierst den Kontakt:
- zu dir selbst (weil du nicht mehr spürst, was du brauchst)
- zu anderen (weil du dich nicht mehr zeigst)
- zu deiner Handlungskompetenz (weil du entweder impulsiv reagierst oder blockierst)
Und das ist kein Persönlichkeitsproblem. Das ist emotionale Entfremdung – etwas, das fast jeder erlebt, wenn er nie gelernt hat, zwischen Gefühl und Reaktion zu unterscheiden.
Ein echtes Gefühl orientiert dich. Ein überlagertes Gefühl verwirrt dich. Beides fühlt sich erst mal gleich intensiv an. Aber das eine bringt dich zu dir selbst zurück. Das andere treibt dich immer weiter von dir weg.
Gefühle spüren lernen:
Warum wir so oft den Zugang verlieren
Die erste Reaktion, das erste Gefühl – es ist meist leise, weich, unangenehm ehrlich. Und genau deshalb ist es so gefährdet, überdeckt zu werden. Was sich im Alltag wie ein emotionales Durcheinander anfühlt, ist in der Psychologie ziemlich klar beschrieben.
Drei wissenschaftliche Modelle helfen zu verstehen, warum wir nicht immer das fühlen, was wir gerade erleben:
🧠 Primäre und sekundäre Emotionen – Leslie Greenberg
Der Emotionsforscher und Therapeut Greenberg unterscheidet zwei zentrale Arten von Gefühlen:
- Primäre Emotionen sind direkte, oft körperlich spürbare Reaktionen auf eine Situation. Sie passen zum Kontext, sind roh, aber klar – wie Trauer nach einem Verlust oder Angst bei plötzlicher Unsicherheit.
- Sekundäre Emotionen entstehen auf andere Gefühle. Sie sind nicht falsch – aber sie verdecken oft etwas. Zum Beispiel: Wut darüber, dass man sich eigentlich beschämt fühlt. Oder Scham, weil man traurig ist.
Greenberg nennt sekundäre Emotionen ein „emotionales Echo“ – also eine Schicht, die nicht aus der Situation selbst, sondern aus der Reaktion auf das innere Erleben entsteht.
🧠 Emotionen als Konstruktion – Lisa Feldman Barrett
Barrett bricht mit der Idee, dass Gefühle biologisch festgelegte Reaktionen sind. Für sie sind Emotionen keine naturgegebenen Reflexe, sondern vom Gehirn konstruierte Bedeutungszuschreibungen:
- Dein Körper sendet Signale (z. B. Herzklopfen, Druck in der Brust).
- Dein Gehirn vergleicht das mit gespeicherten Erfahrungen.
- Und es wählt ein passendes Konzept aus – z. B. „Angst“, „Wut“, „Unsicherheit“.
Was du also fühlst, ist nicht nur eine Reaktion, sondern eine gedeutete Erfahrung. Wenn der Kontext unklar oder überlagert ist, konstruiert das Gehirn auf Basis früherer Prägungen – was erklärt, warum du manchmal überreagierst, ohne zu wissen, warum.
🧠 Emotionen durch Interpretation – Schachter & Singer
Schon 1962 zeigten Schachter und Singer: Gefühle entstehen nicht nur im Körper – sie brauchen eine Erklärung. In ihrem berühmten Adrenalin-Experiment zeigten sie:
- Wenn Menschen körperlich erregt sind, aber nicht wissen, warum, interpretieren sie die Situation emotional – abhängig vom Umfeld.
Das bedeutet: Ohne Klarheit über den Auslöser kann ein neutrales Gefühl schnell fehlgedeutet werden.
Was sich wie Wut anfühlt, kann in Wahrheit Nervosität oder Verletztheit sein – falsch interpretiert, weil das Gehirn eine Erklärung sucht.
Fazit:
Du fühlst nicht immer das, was gerade da ist. Sondern das, was dein System daraus macht. Und genau deshalb lohnt es sich, innezuhalten und zu fragen:
„Ist das gerade wirklich mein eigentliches Gefühl – oder nur eine Reaktion darauf?“

Gefühle einordnen:
Skala für deine Emotionen
Wenn du einmal verstanden hast, dass Gefühle nicht immer in ihrer Reinform bei dir ankommen, stellt sich die nächste Frage:
Wie finde ich heraus, ob ich noch beim echten Gefühl bin – oder längst in der Reaktion darauf?
Ich habe dafür eine Skala entwickelt. Sie hilft, die inneren Ebenen emotionaler Reaktion besser zu unterscheiden. Sie bringt Orientierung – ohne zu werten. Und macht sichtbar, wo du dich gerade im inneren Erleben befindest. Sie zeigt nicht, ob ein Gefühl „richtig“ oder „falsch“ ist – sondern wie viele Schichten schon darüberliegen.
Die Emotionsskala
Nehmen wir zur Veranschaulichung das Beispiel aus der Einleitung zur Hand:
Eine Mitarbeiterin bringt im Meeting eine Idee ein. Niemand reagiert. Keine Rückfrage, kein Blickkontakt – Stille. Was sie erlebt, verläuft emotional in mehreren Ebenen:
🔴 1. Echtes Gefühl – direkt & situativ passend
„Ich bin enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass mein Beitrag gehört wird.“
- körperlich spürbar: Enge im Hals, Druck im Brustkorb
- klar benennbar: Trauer, Verletzlichkeit
- entspricht der Situation – nur ein inneres: „Das tat weh.“
Das ist das Gefühl, bevor dein System zu reagieren beginnt. Es ist unangenehm, aber informativ.
🔴 2. Sekundäres Gefühl – Reaktion auf das erste Gefühl
„Ich werde wütend. Das passiert mir ständig!“
- Reaktion auf das verletzliche Gefühl: „Ich will mich nicht traurig fühlen.“
- Schutzstrategie: Wut ist aktiver, kontrollierbarer
- oft verbunden mit Bewertung: „Ich darf nicht so verletzlich sein.“
Das System schützt dich – aber es verhindert auch den Kontakt zum eigentlichen Bedürfnis.
🔴 3. Überlagerung – emotionale Aufladung durch Bewertung
„Ich bin einfach nicht überzeugend. Ich gehöre hier nicht richtig hin.“
- ursprüngliches Gefühl wird mit alten Themen angereichert
- negative Selbstbilder, frühere Erfahrungen, Angst vor Ausschluss
- Gedanken kreisen: „Ich werde nie ernst genommen.“
Jetzt wird das Gefühl größer, als die Situation es rechtfertigen würde. Du fühlst nicht nur, du interpretierst.
🔴 4. Kognitive Schleife – vom Gefühl zur Identität
„Ich bin der Typ, den man nicht wahrnimmt. Das war schon immer so.“
- Gefühl wird zur Wahrheit über dich selbst
- keine Bewegung mehr, sondern Verhärtung
- Handlung wird unmöglich, Kontakt nach außen bricht ab
Das ist der Punkt, an dem viele Menschen glauben, sie „sind halt so“ – aber das ist kein Gefühl mehr, sondern eine Geschichte.
Zurück zum echten Gefühl: So hilft dir die Emotionsskala
Diese Skala ist kein Diagnosetool – sie ist ein Kompass. Je früher du erkennst, dass du gerade „auf Stufe 3 festhängst“ oder „auf Stufe 2 springst“, desto besser kannst du wieder zurückfinden zu dem, was du eigentlich wirklich fühlst.
Psychologie der Gefühle:
die Wissenschaft hinter der Emotionsskala
Die 4-Stufen-Emotionsskala basiert auf einer Kombination bewährter psychologischer Modelle. Sie ist kein Nachbau, sondern eine praxisorientierte Verdichtung dieser theoretischen Grundlagen. Sie erlaubt, inmitten emotionaler Unklarheit die innere Struktur wieder sichtbar zu machen. Hier siehst du, welche Theorie hinter welcher Stufe steckt:
Direkte, situationsangemessene Emotion. Das Gefühl ist noch unvermischt – es gehört zur Situation.
- Greenberg: Primäre adaptive Emotionen – klar, roh, passend
- Frijda: Emotionen als Handlungsimpulse mit konkretem Ziel
- Ekman: Basisemotionen (Trauer, Freude, Angst etc.) als evolutionäre Reaktionen
- Greenberg: Sekundäre Emotionen – gelernt, oft gesellschaftlich verstärkt
- Barrett: Emotion als Konstruktion – schnelle Deutung durch gespeicherte Bedeutungen
- Wöller & Kruse: Schutz vor verletzlicher Erfahrung durch Ersatzausdruck
Das ursprüngliche Gefühl wird mit alten Erfahrungen und Gedanken vermischt. Das Gefühl wird komplexer, diffuser – nicht mehr kontextbezogen, sondern geschichtet.
- Lazarus: Appraisal-Theorie – emotionale Aufladung durch Bewertung: „Was bedeutet das für mich?“
- Schachter & Singer: Fehlattribution körperlicher Erregung – das Gehirn sucht nach einer Erklärung
- Barrett: Erleben entsteht durch Interpretation – nicht durch Reiz allein
- Young (Schematherapie): Emotionen als Teil fest verankerter Denk- und Verhaltensmuster
- Dweck: Fixed Mindset – Verknüpfung emotionaler Erfahrung mit stabilen Selbstzuschreibungen
- Barrett: Wiederkehrende Deutungen formen die emotionale Landkarte einer Person
Fazit
Was du über Gefühle, Reaktionen und echte Klarheit mitnehmen kannst
- Nicht jede starke Emotion ist das eigentliche Gefühl.
- Viele Gefühle sind Überlagerungen – Schutz, Bewertung oder alte Geschichte.
- Überlagerte Gefühle führen oft zu Missverständnissen, innerer Verhärtung und Handlungslosigkeit.
- Die Emotionsskala hilft dir zu erkennen, wo du stehst – nicht als Urteil, sondern als Orientierung.
- Je klarer du dein Gefühl erkennst, desto besser kannst du kommunizieren, handeln und dich zeigen.
Passende Literatur:
• Barrett, L. F. (2017). Wie Gefühle entstehen: Eine neue Sicht auf unsere Emotionen. Berlin: Ullstein Buchverlage.
• Dweck, C. S. (2006). Mindset: Changing the way you think to fulfil your potential. New York: Random House.
• Ekman, P. (2007). Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. München: Elsevier.
• Frijda, N. H. (1986). The Emotions. Cambridge: Cambridge University Press.
• Greenberg, L. S. (2002). Emotion-focused therapy: Coaching clients to work through their feelings. Washington, DC: American Psychological Association.
• Lazarus, R. S. (1991). Emotion and Adaptation. Oxford: Oxford University Press.
• Schachter, S., & Singer, J. E. (1962). Cognitive, social, and physiological determinants of emotional state. Psychological Review, 69(5), 379–399.
• Wöller, W., & Kruse, J. (2010). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Ein integratives Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer.
• Young, J. E., Klosko, J. S., & Weishaar, M. E. (2003). Schematherapie: Ein Praxisleitfaden für die klinische Arbeit. Paderborn: Junfermann.