Umgang mit Gefühlen: erkennen, verstehen, reagieren

Gefühle sind keine zufälligen Stimmungen. Sie entstehen, wenn wir eine Situation – bewusst oder unbewusst – als bedeutsam bewerten.

Diese Bewertung bezieht sich fast immer auf unsere Grundbedürfnisse: Sicherheit, Verbindung, Selbstachtung, Wirksamkeit, Zugehörigkeit.
Ein Gefühl zeigt uns, ob etwas gerade passt – oder nicht:

  • positive Gefühle wie Freude oder Erleichterung entstehen, wenn ein Bedürfnis erfüllt wird.
  • negative Gefühle wie Wut oder Traurigkeit, wenn etwas fehlt, bedroht oder verletzt wurde.

Gefühle sind also keine Störung, sondern ein Hinweis auf innere Relevanz.
Deshalb geht es nicht darum, sie wegzudrücken oder zu überstehen – sondern darum, sie zu verstehen und sinnvoll zu nutzen.

Was ist überhaupt mein echtes Gefühl?

Nicht jedes Gefühl, das du spürst, ist auch ein „echtes Gefühl“. Viele Menschen reagieren einfach – und verlieren dabei aus dem Blick, was sie eigentlich gerade empfinden.

Wie du Reaktion und Gefühle voneinander trennst und zu dem Kern deiner Empfindung vordringst, zeigt dir die Emotionsskala.

Botschaft deines Gefühls

Wenn du dein echtes Gefühl erkannt hast – z. B. durch die Emotionsskala –, dann beginnt der nächste Schritt: Was bedeutet dieses Gefühl – und was will es dir sagen?

Ein echtes Gefühl hat immer drei Ebenen:

  • das Gefühl selbst (z. B. Wut)
  • seine Funktion (biologische / psychologische Aufgabe des Gefühls z. B. Abgrenzung, Schutz)
  • seine Botschaft (persönliche Information über das Bedürfnis z. B. „Ich will respektiert werden“)

Wenn du die Botschaft erkennst, musst du Gefühle nicht mehr loswerden. Du kannst anfangen, sie zu lesen.

Wie Gefühle entstehen: von Körper, Bedürfnis und Interpretation

Um die Funktionsweise der Gefühle besser zu verstehen, lohnt ein kurzer Blick auf die wissenschaftliche Grundlage. Sie bildet das Fundament für die nachfolgende Checkliste und den Gefühlskompass.

🧠 Basisemotionen – Paul Ekman
Ekman identifizierte sechs universelle Emotionen, die weltweit am Gesichtsausdruck erkennbar sind: Wut, Angst, Freude, Trauer, Ekel, Überraschung. Diese Gefühle gelten als biologisch angelegt. Sie sind schnell, automatisch und haben überlebensrelevante Funktionen (z. B. Wut schützt Grenzen, Angst schützt vor Gefahr).

Erweiterung: In vielen therapeutischen Modellen kommt Scham als siebtes Gefühl dazu – weil sie im Alltag äußerst wirksam, aber selten bewusst gespürt wird. Scham ist kein mimisch eindeutiges Signal – aber eine emotionale Macht, die viele Entscheidungen, Reaktionen und Selbstbilder prägt.

🧠 Embodiment – Antonio Damasio
Damasio zeigte, dass Gefühle nicht rein kognitiv entstehen, sondern eng mit körperlichen Zuständen verknüpft sind. Der Körper registriert Veränderungen oft bevor der Verstand sie einordnen kann. Genau deshalb ist die Wahrnehmung körperlicher Signale der erste Schritt im emotionalen Klärungsprozess.

🧠 Emotionen als Handlungstendenzen – Nico Frijda
Frijda ergänzte, dass jede Emotion eine Tendenz zur Handlung mit sich bringt:

  • Wut → sich wehren
  • Angst → schützen oder fliehen
  • Trauer → Rückzug, Verarbeitung
  • Freude → öffnen, Kontakt aufnehmen

Die Emotion ist also nicht nur Ausdruck, sondern Antrieb. Und genau daraus ergibt sich ihre Funktion und damit auch die Botschaft: „Da ist ein Impuls in dir, der dich zu etwas hin- oder wegbewegen will.“

🧠 Gewaltfreie Kommunikation – Marshall Rosenberg
Rosenberg formulierte: Gefühle sind Alarmzeichen – sie zeigen, ob ein Bedürfnis erfüllt oder verletzt ist. Gefühle sind keine Reaktion auf andere Menschen, sondern auf das, was in uns wichtig ist. Die Verbindung von Gefühl und Bedürfnis ist zentral für jede ehrliche Selbstklärung.

🧠 Emotionen als Zugang zu Bedürfnissen – Leslie Greenberg In der Emotionsfokussierten Therapie zeigt Greenberg, dass primäre Emotionen immer eine Beziehung zum inneren Bedürfnis haben.
  • Scham → Bedürfnis nach Zugehörigkeit
  • Wut → Bedürfnis nach Integrität / Selbstschutz
  • Angst → Bedürfnis nach Sicherheit

Die Botschaft des Gefühls ist also ein Wegweiser zum, was gerade gebraucht wird.

🧠 Narrative Therapie Michael White & David Epston
In narrativen Ansätzen wird davon ausgegangen, dass Menschen ihre Gefühle und Erfahrungen in Geschichten strukturieren. Diese inneren Erzählungen können sich mit der Zeit verselbstständigen und von der ursprünglichen Emotion entkoppeln. Die Checkliste hilft unter anderem dabei, solche Überlagerungen zu entwirren und das Gefühl unter der Geschichte wieder zugänglich zu machen.

Fazit:
Gefühle sind mehr als Stimmungen. Sie sind Systemmeldungen. Wenn du sie richtig lesen kannst, zeigen sie:
• Was dich gerade bewegt.
• Was du brauchst.
• Wovor du dich schützen willst oder wonach du dich sehnst.

Die Checkliste: Gefühl und Botschaft erkennen

Um diesen Prozess greifbar zu machen, habe ich eine Checkliste entwickelt, die dich Schritt für Schritt begleitet: vom ersten Impuls über die Bedeutung deines Gefühls hin zu dem, was wirklich dahintersteckt.

Wichtig: Wenn du dein Gefühl bereits kennst (z. B. „Ich bin traurig“, „Ich fühle mich beschämt“), kannst du direkt bei Punkt 5 einsteigen. Die ersten beiden Fragen brauchst du nur, wenn du noch auf der Suche nach dem echten Gefühl bist. Eine Hilfestellung hierzu bietet die Emotionsskala.

Beispiel: Umgang mit Reaktionen

Wir schauen uns die Checkliste anhand eines einfachen Beispiels an:

Du bringst im Meeting eine Idee ein. Niemand reagiert. Keine Rückfrage, kein Blickkontakt – nur Stille.

Beispiel: „Enge in der Brust, Kiefer angespannt, flacher Atem.“

Punkt 1: Körpersignal. Der Körper zeigt oft schneller als der Verstand, dass etwas innerlich berührt ist.

Beispiel: „Ein kurzer Stich. Traurigkeit. Ich hatte auf Reaktion gehofft.“*

Punkt 2: Echtes Gefühl – leise, fein und nicht verbalisiert. Das echte Gefühl ist oft nur eine rohe Empfindung – es wird erst durch bewusste Wahrnehmung in Worte gefasst.

*Konkret spürst du: „Aua, das tat weh.“

Beispiel: „Ich wurde wütend. Innerlich kam sofort: ‚Klar, wieder ignoriert.“

Punkt 3: Schutzmechanismus. Sekundäre Emotion, das das erste Gefühl überlagert, damit der Schmerz der ursprünglichen Empfindung nicht gefühlt werden muss. Wut ersetzt Trauer.

Beispiel: „Ich bin nicht überzeugend. Ich sollte es lassen.“

Punkt 4: Gedanklicher Überbau. Hier beginnt die kognitive Geschichte, die du anfängst weiterzuspinnen – das Gefühl wird zum Selbstbild oder zu einer weiter gefassten Interpretation der Situation.

Beispiel: Betrachte Punkt 2 = Traurigkeit. Traurigkeit weist auf einen Verlust / Mangel hin.

Punkt 5: Funktion. Hier gehst du ganz bewusst zu Punkt 2 zurück. Statt die Gedankenspiral ab Punkt 3 zu aktivieren, lenkst du deinen Fokus auf die Funktion des Gefühl. Der Gefühlskompass (siehe unten) zeigt dir mögliche Zuordnungen.

Beispiel: „Ich möchte gesehen werden. Ich habe das Bedürfnis dazu zu gehören.“

Punkt 6: Botschaft. Die konkrete innere Information, die dir das Gefühl über deine Bedürfnisse und deine Situation mitteilt.

Die Checkliste zeigt uns:

  • Das echte Gefühl ist Traurigkeit – über das Nicht-Gesehenwerden. Wut, Rückzug oder Selbstabwertung kamen erst danach. Sie waren verständlich – aber sie haben das echte Gefühl überlagert.
  • Die Funktion der Traurigkeit ist: Aufdeckung eines Mangels
  • Die Botschaft der Traurigkeit ist: „Ich wollte dazugehören und wurde ignoriert.“

Der Gefühlskompass
– Emotionen aufgeschlüsselt

Wenn du dein Gefühl gefunden hast, taucht oft die nächste Frage auf: „Woher weiß ich eigentlich, was die Funktion und die Botschaft genau sind?“

Denn nicht jedes Gefühl erklärt sich von selbst. Manche wirken diffus, widersprüchlich und sind nicht klar in ihrer Aussage. Als Hilfestellung habe ich den Gefühlskompass aufgestellt. Er gibt dir eine Richtung, welche Funktion ein Gefühl in der Selbstregulation erfüllt – und welche Botschaft es typischerweise in sich trägt.

Gefühl: Trauer

Funktion: Verarbeitung von Verlust, Mangel und Veränderung
Botschaft: „Etwas war mir wichtig – und ich muss mich davon verabschieden.“

Gefühl: Wut

Funktion: Schutz und Verteidigung der eigenen Grenzen und Werte
Botschaft: „Hier stimmt etwas nicht für mich – ich will das nicht hinnehmen.“

Gefühl: Angst

Funktion: Schutz vor Bedrohung, Vorsicht vor Risiken
Botschaft: „Etwas wirkt unsicher oder gefährlich – pass auf dich auf.“

Gefühl: Freude

Funktion: Bestärken von positiven Erfahrungen und Beziehungen
Botschaft: „Das tut mir gut – davon möchte ich mehr!“

Gefühl: Abscheu

Funktion: Distanzierung und Abwertung von Unvereinbarem oder Schädlichem
Botschaft: „Das passt nicht zu mir – ich lehne es ab und halte Abstand.“

Gefühl: Überraschung

Funktion: Aufmerksam werden auf eine neue Situation oder Erkenntnis
Botschaft: „Etwas Unerwartetes passiert – schau genau hin.“

Gefühl: Scham

Funktion: Sicherung sozialer Bindungen durch Selbstanpassung
Botschaft: „Ich habe Angst, ausgeschlossen zu werden – ich wünsche mir Zugehörigkeit.“

Alltagsgefühle einordnen – damit du dich besser wiederfindest

Nicht jeder nennt sein Gefühl gleich „Wut“ oder „Traurigkeit“. Viele sagen stattdessen: „Ich bin enttäuscht.“ – „Ich fühle mich verletzt.“ – „Ich bin genervt.“ Diese Begriffe sind oft emotional näher dran – aber psychologisch zusammengesetzt.

Wenn du besser verstehen willst, wie du Alltagsgefühle auf Basisemotionen zurückführen kannst, findest du dazu eine ausführliche Übersicht in Teil 3 dieser Reihe.
Zum Artikel: „Gefühle benennen: Warum wir nicht sagen, was wir fühlen“

Umgang mit Gefühlen - was du tun kannst

Wenn du die Funktion und die Botschaft deines Gefühls erkannt hast, entsteht oft ein Moment der Klarheit. Du weißt: „Darum ging’s mir wirklich.“ Nicht um die Wut. Nicht um das Schweigen. Sondern um das Gefühl, nicht gesehen worden zu sein.

Und dann kommt die nächste Frage: Was mache ich jetzt damit?

Im Beispiel: Du hast im Meeting eine Idee eingebracht – aber niemand reagiert.

  • Du spürst Traurigkeit darüber, nicht gehört worden zu sein.
  • Du hast verstanden: Das Gefühl ist Traurigkeit. Die Funktion ist Aufdeckung eines Mangels. Die Botschaft: „Ich wollte dazugehören – und wurde ignoriert.“ 

Hier gibt es keine universelle Lösung – aber drei mögliche Richtungen, die du prüfen kannst:

Nicht jedes Gefühl will eine aktive Handlung. Manche Gefühle – wie Traurigkeit – wollen einfach nur zeigen: „Da ist ein Mangel. Ich habe mir etwas anderes gewünscht.“

Wenn du das erkennst, kann das Gefühl sich beruhigen, weil es gehört wurde. Du musst nicht sofort etwas verändern, sondern du kannst etwas über dich selbst lernen: „Mir ist also die Meinung anderer wichtig.“

Manchmal willst du nicht nur für dich selbst klären, was du fühlst, sondern auch Verständigung mit anderen schaffen. Dann kann es hilfreich sein, das Gefühl mitzuteilen. Wichtig hier: nicht als Vorwurf, sondern als Einblick. Du kannst sagen, wie es für dich war ohne eine Schuld zu verteilen.

Beispiel: „Ich hatte das Gefühl, überhört worden zu sein und das hat mich mehr beschäftigt, als ich erwartet hätte.“

Ziel ist nicht Rechtfertigung oder Drama – sondern Möglichkeit für ein besseres Miteinander schaffen.

Wenn du verstanden hast, worum es dir wirklich ging, kannst du dir überlegen, ob du beim nächsten Mal anders reagieren willst.

Beispiel: „Ich habe gemerkt, dass ich in Meetings oft still werde, wenn mein Beitrag ignoriert wird. Beim nächsten Mal will ich meine Idee später noch einmal gezielt aufgreifen, damit ich präsent bleibe.“

Veränderung heißt: Du triffst eine bewusste Entscheidung – nicht auf Basis einer impulsiven Reaktion, sondern aufgrund deiner inneren Überzeugung.

Fazit

Gefühle wollen dir nicht im Weg stehen. Sie wollen dich auf etwas hinweisen. Wenn du lernst, das echte Gefühl hinter der Reaktion zu erkennen, verändert sich etwas Grundlegendes:

Manchmal ist das schon genug: Dass du weißt, worum es dir wirklich geht.

Alles Weitere beginnt dort.

🔗 In Teil 3: „Gefühle benennen: Warum wir nicht sagen, was wir fühlen“ zeige ich dir, wie du Gefühle wie verletzt, enttäuscht und genervt richtig zuordnen kannst.

🔗 In Teil 1Echte Gefühle erkennen: Was du wirklich fühlst – und warum erfährst du, wie du Gefühle von Gedanken und Narrativen unterscheiden kannst.

Passende Literatur:
• Damasio, A. R. (1994). Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: Piper Verlag.
• Ekman, P. (2004). Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. München: Hanser Verlag.
• Frijda, N. H. (1986). The Emotions. Cambridge: Cambridge University Press.
• Greenberg, L. S. (2015). Emotion-Focused Therapy: Coaching Clients to Work Through Their Feelings. Washington, DC: American Psychological Association.
• Rosenberg, M. B. (2001). Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Junfermann Verlag.
• White, M., & Epston, D. (1990). Narrative Means to Therapeutic Ends. New York: Norton.

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Eve

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